Zivilcourage – Mitwisser sind Möglichmacher
So hart es klingen mag: Mitwisser sind Möglichmacher. Das gilt von Spreitenbach bis Hollywood. Dieser Gedanke ändert den Ansatz für die Präventions- und Interventionsarbeit radikal und zeigt, weshalb es nicht reicht, auf der Täter-Opfer-Ebene anzusetzen, sondern dass andere verantwortliche Parteien in die Lösungsfindung einbezogen werden müssen und Zivilcourage trainiert werden soll.
Im Herbst 2017 hat sich in der Deutschschweiz eine 13-jährige Schülerin, die Opfer von Cyberbullying geworden war, das Leben genommen. Es ist Zeit, in Sache Prävention und Intervention umzudenken: Zu oft wird die Mobbing-Situation unterschätzt oder gar nicht erkannt und manchmal trotz Intervention nicht sauber gelöst oder gar verschlimmert.
Es geht um Macht, um Angst und um Zugehörigkeit
1964 wurde die 28-jährige Kitty Genovese auf offener Strasse in New York angegriffen und ermordet. Der Vorfall wurde in der New York Times damals zu einer grossen Story. Nicht etwa des Mordes wegen, sondern deshalb, weil 38 Anwohner gehört hatten, wie die Frau um Hilfe schrie und keine der Personen eingriff. Dieses Ereignis veranlasste die beiden Forscher Darley und Latané (1968) zu einer Untersuchung, weil sie überzeugt waren, dass hinter diesem Nicht-Eingreifen keine Gleichgültigkeit steckte.
Es braucht nur einen mutigen Menschen mit Zivilcourage, damit die Situation kippt
„13 Reasons why“ – Die erfolgreichste Netflix-Serie handelt von Mobbing und Selbstmord
Würden Mitläufer nicht mitziehen und Zuschauer nicht schweigen, stünden die Täter alleine da. Sie würden ihre Macht sofort verlieren. Schweigen heisst billigen und bestätigt die Täter in ihrem Tun.
Anders als bei „normalen“ Konflikten, besteht bei Mobbing ein Machtungleichgewicht: Eine Gruppe gegen eine Person, ein älterer gegen einen jüngeren Schüler, ein Chef gegen eine Mitarbieterin/einen Mitarbeiter,…
Schicken wir voraus, dass das Zugehörigkeitsgefühl für den Menschen zu den wichtigsten Grundbedürfnissen gehört, versteht man besser, dass der Verlust der Zugehörigkeit für die Opfer ein wahrer Albtraum ist. Mitläufer lassen sich oft mitziehen, um auf der sicheren Seite zu stehen. Zuschauer, finden die Gewaltsituation keineswegs in Ordnung, möchten selber allerdings nicht unter die Räder kommen. Man macht mit oder hütet sich davor, was zu sagen. Aus Angst, nicht mehr dazu zu gehören. (Siehe auch Artikel Was tun, wenn mein Kind gemobbt wird?)
„It’s not just his behaviour that was troubeling, it’s the way people around him excused it.“
John Oliver (Satiriker) über Harvey Weinstein (Filmproduzent)
Was hindert uns zu helfen?
1964 wurde die 28-jährige Kitty Genovese auf offener Strasse in New York angegriffen und ermordet. Der Vorfall wurde in der New York Times damals zu einer grossen Story. Nicht etwa des Mordes wegen, sondern deshalb, weil 38 Anwohner gehört hatten, wie die Frau um Hilfe schrie und keine der Personen eingriff. Dieses Ereignis veranlasste die beiden Forscher Darley und Latané (1968) zu einer Untersuchung, weil sie überzeugt waren, dass hinter diesem Nicht-Eingreifen keine Gleichgültigkeit steckte.
Es braucht nur einen mutigen Menschen mit Zivilcourage, damit die Situation kippt
Eine Metauntersuchung all dieser Bystander-Experimente (siehe Peter Fischer, 2011) zeigte aber nicht nur, dass je mehr Personen zugegen sind, weniger geholfen wird, sondern, dass:
1.) je gefährlicher die Situation ist, desto eher jemand hilft (selbst, wenn viele Personen zugegen sind).
2.) es nur eine einzige aktive Person braucht, die zu helfen beginnt, so dass plötzlich auch andere nachziehen und helfen.
Mit anderen Worten braucht es zwar für die einzelnen Zuschauer Mut, einen ersten Schritt zu wagen. Ihr Tun ermutigt andere, ebenfalls aktiv zu werden. Zivilcourage heisst nicht, sich selber in Gefahr zu bringen, Denunziantentum zu fördern oder gewalttätig gegen den Täter/die Täterin vorzugehen (indem man zum Beispiel zurück mobbt). Zivilcourage heisst, dem Opfer beizustehen, damit es sieht, dass es nicht alleine ist und den Mut zu haben, sinnvolle Hilfe zu holen.
„13 Reasons why“ – Die erfolgreiche Netflix-Serie handelt von Mobbing und Selbstmord
Worum es geht
Die 17-jährige Schülerin Hannah Baker bringt sich um und hinterlässt ein Päckchen mit 13 Kassetten, die sie vor ihrem Selbstmord besprochen hat. Auf den 13 Kassetten erklärt sie, was die Gründe sind, bzw. welche 13 Personen für ihren Selbstmord mitverantwortlich sind.
Weshalb die Serie umstritten ist
Umstritten ist die Serie in den Fachkreisen vor allem deshalb, weil der Selbstmordakt sehr detailliert dargestellt und der Suizid als einzige Lösung in Betracht gezogen wird.
Viele Schulen und Psychologen befürchten Nachahmungstaten (Werther Effekt) und plädieren daher, die Serie erst ab 18 Jahren zu erlauben oder ganz zu verbieten, was in manchen Ländern schon der Fall ist.
Die Sicht der Jugendlichen
Die Jugendlichen sind von der Serie fasziniert, weil sie sich verstanden fühlen. In meinen Interviews mit Jugendlichen erfuhr ich, dass sie die Serie wichtig finden, weil gezeigt würde, wie wenig bereits verletzend wirkt und welche Auswirkungen Mobbing haben könne.
Die Serie zeige aber auch, wie sehr Eltern und Lehrpersonen manchmal an den Jugendlichen vorbeiredeten und sie nicht verstünden.
Was verboten ist, ist reizvoll. Die Serie zu verbieten, bringt das Risiko mit sich, dass Jugendliche sich auf verbotenen Wegen Zugriff verschaffen werden. 13 Reasons why zeigt interessante Aspekte, die uns zu denken geben und diskutiert werden sollten.
Grundsätzlich sollten die Jugendlichen diese Serie nicht alleine schauen:
a) weil sie teils aus dramaturgischen Gründen zu konstruiert ist.
b) weil der Selbstmordakt zu detailliert und Suizid letztlich als einziger Lösungsweg dargestellt wird.
c) weil das Ganze eine subjektive Sicht zeigt (Erzählerin) und mangels Diskussion keine weitere Perspektiven erlaubt.
d) weil es durch die aufgezeigte Möglichkeit, die Täter für den Selbstmord mitverantwortlich zu machen, den Opfern die Gelegenheit gibt, die Täter zu bestrafen (beschuldigen/Schuldgefühle erzeugen), Selbstmord nicht mehr nur zum Verzweiflungs-, sondern auch zum Racheakt werden lässt.
Zu denken geben sollten uns Erwachsenen auch sekundäre Themen in dieser Serie:
Zum Beispiel die Kompensationsstrategien der Teenager in den verschiedenen Familien- und Erziehungssituationen.
Interessant ist, dass es, ausser bei Hannah und Clay, bei den anderen Jugendlichen zu Hause, wenig Beziehung, Dialog und Verständnis gibt.
Gemeinsam gegen Mobbing vorgehen
Bist du in deiner Arbeit als Lehrperson, Kinder- und Jugendcoach, Lerncoach, Berater/-in oder Elternbildner/-in schon mehrfach mit dem Mobbingthema in Berührung gekommen und warst bisher unsicher, wie du reagieren sollst?
Lerne im Train-the-Trainer alles über die Mechanismen, sowie die Formen von Mobbing und Cybermobbing und erfahre, wie man in welchen Situationen reagieren soll und, was man präventiv gegen (Cyber)Mobbing tun kann.
Was können Schulen und Eltern tun?
Nach dem Selbstmordfall der 13-jährigen Schülerin in Spreitenbach wurden sehr viele Stimmen laut.
Selbstmordprävention und Mobbingverträge wurden seither an Schulen verlangt.
Ironischerweise wird nach dem Suizid von Hannah Baker in der Netflix-Serie ebenfalls aktive Selbstmordprävention an der Schule unternommen und niemand bekommt mit, dass sich, unter den Augen aller, ein weiterer Selbstmord anbahnt.
Selbstmordprävention ist eine sehr delikate Angelegenheit, vor allem geht es nicht lediglich um Informiert-Sein, sondern bedarf vom Umfeld gute Antennen, um zu erkennen, dass es einem Schüler nicht gut geht.
Umgekehrt müssen die Hemmschwellen für Hilfsangebote möglichst niedrig sein. Eine Beratungsstelle, welche den Schülern nur 2 Stunden pro Woche in der Schule zur Verfügung steht, ist absoluter Unsinn.
Wichtig ist, dass die Schüler grundsätzlich auch eine Notfallnummer kennen, wo sie, rund um die Uhr und anonym, professionelle Hilfe bekommen, z.B. über die Nummer 147 von Pro Juventute.
Lehrpersonen sollten in Früherkennung und Frühintervention geschult werden, das beinhaltet nicht nur die Risiko-Anzeichen zu kennen, sondern die Wahrnehmung zu schulen und zu wissen, wie man heikle Themen anspricht, in welchen Fällen man der Schweigepflicht entbunden werden kann und welche Beratungsstellen für den Schüler, die Eltern oder supervisionsmässig für die Lehrperson weiterhelfen.
Bevor wir aber Selbstmordprävention in Schulen systematisch einführen, sollte ganz sicher damit begonnen werden, Lehrpersonen in Sache Mobbingprävention und -intervention handlungsfähig zu machen.
Wie eingangs schon erwähnt, wird Mobbing oft unterschätzt oder gar nicht erkannt. In manchen Fällen wird bei der Intervention die Situation nicht sauber gelöst oder sogar verschlimmert.
Was Eltern tun können, wenn Ihr Kind gemobbt wird, beantwortet der Artikel „Was tun bei Mobbing?“.
Mobbing darf keinesfalls wie Konflikte gelöst werden, weil es sich selten um eine bilaterale Angelegenheit handelt.
Möglichmacher müssen genauso in die Lösung einbezogen werden, wie Täter und Opfer. Es hat sich gezeigt, dass Schüler viel weniger in die Rechtfertigung, Defensive oder Verharmlosung gehen, wenn man über Metaphern oder mit dem NoBlame Approach-Konzept arbeitet (siehe Infos dazu in den Quellenangaben). Statt zu sanktionieren, arbeitet man mit den Schülern an einer Wiedergutmachung, was wiederum die Sozialkompetenz der Schüler fördert und die Opfer ermutigt, eher Hilfe zu holen, als wenn sie sich vor der Rache der bestraften Täter fürchten müssen.
Gemeinsam können wir ein Zeichen gegen Mobbing setzen!
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Quellenangaben und weiterführende Links
Bildquelle: @ HighwayStarz/depositophotos.com
Weiterführende Links zu Mobbing
Youtube Video: Ein Experiment (Jede kann Opfer werden)
Interview: Mobbing darf nicht toleriert werden
Interview: Kinder müssen verstehen, was sie mit fiesen Nachrichten bewirken
Weiterführende Links zu „Tote Mädchen lügen nicht“
Geht die Serie zu weit? – Diskussion um die Serie
Materialien für den Unterricht
Plakat zum Download: Zivilcourage
Infos zum No Blame Approach Konzept
Letzte Aktualisierung: 29.04.2019