Welche Farbe hat Zivilcourage?
„Frau Schläpfer, ich muss Ihnen was sagen. Aber bitte, verraten Sie nicht, dass ICH sie informiert hab.“ Die 13 jährige Schülerin hatte ihren ganzen Mut zusammengefasst. Seit einiger Zeit wurde ein Mädchen aus der Klasse regelmäßig von ihren Mitschülerinnen schikaniert und fertig gemacht. Das Ganze schien sich vorwiegend auf dem Mädchenklo und in den Korridoren abzuspielen.
Entstanden war die Situation, nachdem das eine Mädchen offenbar dem anderen den Freund ausgespannt hatte: Aus dem Rachefeldzug der Ex-Freundin hatte sich nun eine regelrechte Mobbing-Situation gebildet. Obwohl ich ständig ein Auge darauf hatte, wie es meinen Klassen ging, war mir diese Dynamik völlig entgangen. Erst die Info der mutigen Schülerin ermöglichte mir, davon zu erfahren, um die Mobbingsituation sorgfältig mit der Klasse aufzulösen.
Die Angst als Petze da zu stehen
Zivilcourage zu zeigen und Hilfe zu holen, ist alles andere als Petzen. Es bedeutet, hinzuschauen statt wegzusehen. Es bedeutet, Mut zu haben, jemandem beizustehen. Viele Zuschauer:innen holen in Mobbingsituationen keine Hilfe, weil sie Angst haben, selbst unter die Räder zu kommen oder als Petze da zu stehen. Dabei tragen die Zuschauer:innen ebenso Mitverantwortung im Mobbing-Geschehen, wie die Täter:in und die Mitläufer:innen.
Für den Triumph des Bösen reicht es, wenn die Guten nichts tun!
Edmund Burke
Damit Schüler:innen, die Hilfe holen, nicht zur Zielscheibe werden, gibt es verschiedene Möglichkeiten, sie zu schützen. Eine davon, die sich für alle Altersstufen eignet, ist der anonyme Kummerkasten. Dies sollte keinesfalls der Briefkasten zur Sammlung von Klassenrat-Themen sein, da Mobbing nicht im Klassenrat gelöst werden sollte. (Mehr dazu gibt es hier zu hören: Mobbing anders angehen, Folge 3)
Mit pinken Shirts gegen Mobbing
Es gibt den „pinkribbon“ als weltweites Symbol für mehr Bewusstsein gegen Brustkrebs. Aber wusstest Du, dass die Farbe Pink auch für Solidarität im Kampf gegen Mobbing eine Rolle spielt?
Vor 15 Jahren ergriffen 2 kanadische Highschool-Schüler die Initiative, ein Zeichen gegen Mobbing zu setzen, weil ein Mitschüler, wegen seines rosa Shirts, zum Mobbing-Opfer geworden war. Sie kauften 75 pink T-shirts und verteilten diese in ihrer Schule. Es ging nicht lange, bis dies eine richtige Anti-Mobbing Bewegung auslöste. Aus dem #pinkshirtday wurde ein #standuptobullyingday, der 2x im Jahr (im Februar und im November sogar während einer ganzen Woche) in 25 Ländern stattfindet. Diese Aktion findet bislang vor allem in englischsprachigen Ländern statt und zwar nicht nur in Schulen, sondern auch in vielen Firmen. (Mehr dazu gibt es hier zu hören: Mobbing anders angehen, Folge 4).
Es braucht nicht nur Mut, sondern auch Empathie und Mitgefühl
Mit dieser Aktion zeigten diese beiden Highschool-Schüler damals ihre Solidarität mit dem Mobbing-Opfer und setzten damit ein klares Zeichen. Zivilcourage und Solidarität sind beides Formen des Mutes und Bestandteile jeder erfolgreichen Bewegung für sozialen Wandel. Während Solidarität eher bedeutet, zusammen zu stehen und sich gemeinsam für Menschen einzusetzen, die nicht selbst dazu in der Lage sind, geht Zivilcourage noch etwas weiter. Wer Zivilcourage (bzw. sozialen Mut) zeigt, ist trotz möglicher unangenehmen Konsequenzen bereit, sich für soziale Werte wie Menschenwürde und Gerechtigkeit zu engagieren und anderen zu helfen. In Mobbingsituationen bedeutet Zivilcourage nicht unbedingt nur „dazwischen zu gehen“ (man kann stattdessen auch ganz diskret Hilfe holen) – sondern es kann auch Mut bedeuten, NEIN zu sagen: „Nein, ich mach nicht mit!“
Zivilcourage und Solidarität hängen von der Fähigkeit ab, die Gefühle eines anderen Menschen lesen und verstehen zu können. Wer also das Leiden eines anderen Menschen nicht erkennen und Mitgefühl entwickeln kann, der wird auch kaum inspiriert sein, Massnahmen zu ergreifen, um zu helfen.
Kann man Zivilcourage lernen?
Ja, Zivilcourage kann man wie viele andere sozialen Kompetenzen erlernen. Allerdings kann man sich ersparen, den Schüler:innen einen Vortrag über Zivilcourage und Solidarität zu bringen oder Arbeitsblätter dazu auszufüllen. Soziale Kompetenzen muss man ERLEBEN, um sie entwickeln zu können. – Dabei ist unsere Vorbildfunktion nicht unerheblich.
Des Weiteren eignet es sich bei vielen Themen immer wieder, mit Geschichten zu arbeiten. Auch hier, wenn es um Zivilcourage geht. Hier findest Du zwei Buchtipps:
Für jüngere Kinder ab Kindergarten bis Unterstufe, empfehle ich immer gerne das Bilderbuch Mutig, mutig von Lorenz Pauli.
In jener Geschichte geht es um vier Tiere (einen Frosch, eine Maus, eine Schnecke und einen Spatz), die sich furchtbar langweilen und auf die Idee kommen, Mutproben durchzuführen. Der Reihe nach unternehmen sie verrücktere und gefährlichere Mutproben. Bis der Spatz dran ist. Ganz unerwartet zeigt er keine weitere Mutprobe, sondern erklärt: „Ich mach nicht mit.“ – Für die anderen Tiere ist nun klar: DAS ist mutig. Es braucht Mut, NEIN zu sagen.
Ein anderes Buch, das ich ganz besonders mag, ist Jaron auf den Spuren des Glücks von Fabian Grolimund und Stefanie Rietzler.
Als Jaron, ein junger Fuchs, der mit seiner Situation verzweifelt ist, sich jeden Tag mehr und mehr isoliert fühlt, wird er aus seiner Komfortzone gezwungen, als das Hasenmädchen Lotte ihn herausfordert, sich ihr und ihren Freundinnen Merle und Frieda auf einer unerwarteten Reise anzuschließen, die darauf abzielt, herauszufinden, was wahres Glück bringt. Auf dem Weg dorthin lernt Jaron eine unschätzbare Lektion fürs Leben, wie man sich selbst so akzeptiert, wie er ist, wie er ist, wie er angesichts von Widrigkeiten für sich selbst einsteht und wie Solidarität helfen kann, Mobbing zu überwinden.
Wie fördert Ihr Solidarität und Zivilcourage an Eurer Schule? Wie thematisiert Ihr es zu Hause? Und: welches sind Eure Lieblingsbücher dazu?