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Die Arbeit mit dem Körpergedächtnis

Die Arbeit mit dem Körpergedächtnis

In unserem Leben haben wir des Öfteren mit Problemen und Ängsten zu kämpfen; viele davon sind oft kleinere Hindernisse, die wir mit etwas Glück und Planung meistens umgehen können, beispielsweise die Angst vor Spinnen, Dunkelheit oder ins Flugzeug zu steigen. Einige behindern uns aber auch im (Berufs-)Alltag regelmässig und können die Lebensqualität stark verschlechtern. Beispiele dafür wären die durchaus verbreitete Angst vor Präsentationen und öffentlichen Reden, Prüfungen oder die leichte Reizbarkeit in bestimmten Situationen. Oft handeln und versuchen wir erst, unsere Ängste und das Körpergedächtnis zu bekämpfen, wenn sie uns zu sehr einschränken und belasten.

Die Forschung im Bereich der menschlichen Psyche blüht und ist schon eine ganze Weile im Gange – neuer ist hingegen der Ansatz, dass Emotionen, die in Verbindung und als Reaktion auf problematische und Angstsituationen auftreten, ihren Ursprung im menschlichen Körper selbst haben. Luc Nicon, ein französischer Pädagoge, begründete aus diesem Gedankengang heraus 1998 eine neue Möglichkeit, solche Emotionen aufzulösen, genannt TiPi (Technique d’Identification sensorielle des Peurs Inconsientes, dt. Technik zur Identifizierung unbewusster Ängste auf Körperebene). Die Methode beschäftigt sich mit dem sogenannten Körpergedächtnis, welches schon ab dem Säuglingsalter jegliche gemachten Erfahrungen speichert.

Erfahrungen bleiben, je nach dem Alter der Person zur Zeit des Stattfindens (viele Personen können sich nicht aktiv an Geschehnisse vor ihrem vierten Lebensjahr erinnern) und der Art der Erfahrung/Information im expliziten Gedächtnis gespeichert. An im expliziten Gedächtnis gespeicherte Informationen kann man sich bewusst erinnern, und es ist möglich, sie selbst in Worte zu fassen und zu beschreiben (ein Beispiel dafür wäre auswendig gelernter Schulstoff). Den Gegenpart bildet das implizite Gedächtnis; in ihm gespeicherte Erfahrungen und Informationen lassen sich schwer in Worte fassen, sie sind also sozusagen „verkörperlicht“ und verinnerlicht (beispielsweise routiniertes Autofahren oder das Binden von Schnürsenkeln). TiPi befasst sich mit dem impliziten Gedächtnis, welches auch frühkindliche Erfahrungen speichert, selbst wenn die betroffene Person sich nicht bewusst daran erinnern kann. Sind diese Erfahrungen bedrohlich, verängstigend oder in einer anderen Weise ausserordentlich negativ für den Betroffenen, können die Folgen und Nachwirkungen davon bis ins Erwachsenenalter anhalten; oft ist der Person gar nicht bewusst, dass der Ursprung eines Problems resp. der auftretenden Emotionen und körperlichen Reaktionen weiter zurückliegt als gedacht und nicht explizit in Erinnerung gerufen werden kann.

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Hier liegt denn auch der Unterschied zwischen TiPi und herkömmlichen gesprächsbasierten Psychotherapien: Gesprächstherapie erfolgt auf der expliziten Ebene, wodurch wichtige, oftmals implizit gespeicherte Informationen ausgelassen werden und nicht in die Behandlung miteinfliessen können. Während die Ursachen für emotionale Schwierigkeiten oftmals explizit erfasst und eingeordnet werden können, ist es für den Therapieerfolg wichtig, alte Gefühle in einem sicheren Umfeld zuzulassen und anschliessend umzudirigieren; ansonsten kehren die Reaktionsmuster bei jeder Möglichkeit zurück. Es wurde bereits mehrfach wissenschaftlich nachgewiesen, dass körperorientierte Psychotherapien grosse Wirksamkeit entfalten, beispielsweise bei der Behandlung von Depressionen oder Psychosen, welche durchaus eine Folge von frühkindlichen Erfahrungen sein können; diese müssen im Übrigen nicht verheerend (Missbrauch, Vernachlässigung etc.) gewesen sein, denn beispielsweise bereits eine unharmonische Mutter-Säugling Beziehung kann eine Wurzel psychischer Störungen darstellen. TiPi setzt nun beim Körpergedächtnis an und besteht aus drei wesentlichen Schritten:

  1. Es wird eine konkrete Situation benötigt, in der die emotionale Schwierigkeit auftritt.
  2. Es wird wahrgenommen, was dabei im eigenen Körper geschieht.
  3. Man lässt diese Körperempfindungen sich verändern, bis sie sich beruhigt haben.

Es wird also über das spezifische Körperempfinden in Bezug zu einer problematischen Situation direkt auf den (womöglich unbewussten) Ursprung dessen zugegriffen, und der emotionale Stress wird erneut erlebt. Dadurch eröffnet sich schliesslich die Möglichkeit, diesen nachhaltig aufzulösen und zu deaktivieren.

Auch die Wirksamkeit von TiPi wurde bereits wissenschaftlich belegt, beispielsweise durch eine dreijährige Studie Nicons selbst, bei der er seine Methode an 278 Betroffenen von Phobien, starken Ängsten, Depressionen u.W. testete; die Auflösung des Leidens trat bei 79% der Teilnehmer bereits nach einer, bei 19% nach zwei Sitzungen ein. Der vergleichsweise geringe Zeitaufwand (meist reicht eine Stunde oder gar weniger) aus dem Grund, dass die Vergangenheit des Patienten nicht analysiert, sondern ausschliesslich mit dem Körpergedächtnis und körperlichen Reaktionen gearbeitet wird, ist eine weitere Besonderheit der Methode. Betroffene können ausserdem, nach eigenem Erlernen der Technik, diese direkt bei sich selbst anwenden.

Im französischsprachigen Raum, den USA und seit 2011 in Deutschland sind derzeit mehrere hundert TiPi-Coaches tätig. Interessierte finden im Anschluss einen Verweis direkt auf die offizielle TiPi Webseite, auf der auch die tätigen Coaches aufgelistet sind, sowie eine Literaturangabe zur Buchveröffentlichung Nicons zur TiPi-Methode.

Weitere Informationen:

TiPi – befreit von alten Mustern (offizielle Webseite)

Befreit von alten Mustern

Nicon, Luc: Befreit von alten Mustern. TiPi – eine Körperreise zum Ursprung unserer Emotionen und Ängste. Junfermann Verlag, 2011.
ISBN: 978-3-87387-776-4

Quellen:

http://www.simplify.de/die-themen/ganz-einfach-dunja/einzelansicht/article/fuer-mehr-gelassenheit-und-lebensfreude-tipi-woche-1/

Possemeyer, Ines: Das Gedächtnis des Körpers. In: GEO, Ausgabe 02, 2013, S. 80-91.

verfasst von Julia Wegner für edufamily®